Wem gehört die Stadt?



Wer tagsüber auf dem “Tegernseer Platz” (auf der großen Kreuzung vor dem noch existierenden PUERTO GIESING) steht und sich dort umsieht, dem fällt auf, dass sich im schönen Obergiesing scheinbar einiges im Wandel befindet. Der Stadtteil, von jeher sehr heterogen – kein Haus passt zum anderen und gerade das macht den unprätentiösen Charme des Viertels aus, verändert ja schon seit den 1980er Jahre sein Gesicht. Am besten ist diese Entwicklung entlang der “Tela” (Tegernseer Landstraße) zu beobachten. Sie durchläuft fast das gesamte Viertel, vom Ostfriedhof durch den McGraw-Graben bis an die Stadtgrenze. An ihr liegen die beiden heute noch wahrnehmbaren dörflichen Kerne mit bäuerlichem Ursprung, einer davon direkt hinterm ehemaligen Hertie-Kaufhaus – Gerhard Polt drehte dort Anfang der 90er seinen Film “Herr Ober” – und einer auf der andere Seite des Tegernseer Platzes an der Silberhornstraße, desweiteren die schöne Tela-Post (1928-29 vom Architekten Robert Vorhölzer im Stil der klassischen Moderne erbaut), einige Genossenschaftsbauten aus roter Vergangenheit (ebenfalls 1920er Jahre) und am Übergang zum mittleren Ring das Grünwalder oder “Sechzger”-Stadion. Bereits zu Beginn der 1920er Jahre siedelte sich an der “Tela” die Firma Agfa an. Ab 1933 prägten die Nationalsozialisten das Bild des Stadtbezirkes und nach dem zweiten Weltkrieg, bis zu ihrem Abzug im Jahre 1992, die US-Armee. Seit einiger Zeit nun reihen sich vermehrt neue Bio- und Handyläden in der einst von verrauchten Arbeiterpinten gesäumten Tegernseer Landstraße aneinander. Kleine Gastrobetriebe siedeln sich an, bauliche Lücken werden geschlossen und alte Fassaden saniert. Bisher sind die Mieten in Giesing für Münchner Verhältnisse zwar immer noch relativ human, ob das so bleibt ist jedoch unsicher. Das Schreckgespenst der “Gentrifizierung” kriecht langsam den Nockherberg hoch und sucht sich erste Opfer. Obergiesing singt den Inner City Blues: “The way they do my life make me wanna holler…”

Schon im Zuge der kulturellen Zwischennutzung des PUERTO GIESING kam es zu “Gentrifizierungs”-Debatten: Sind Künstler wirklich Agenten (“Minenhunde”) einer kapita­listischen Aufwertungsstrategie? Gibt es antikapitalistische Gegenstrategien? In gewissem Grade ist diese Stadtentwicklung ja auch unumgänglich. In einem intakten Gefüge müssen sich Stadtteile von Zeit zu Zeit verändern, ihre Bausubstanz und soziale Zusammensetzung erneuern und neu definieren. Aber welche neue Identität findet ein ehemaliges Arbeiterviertel wie Giesing, dessen Wahrzeichen gesprengt (ca. 15.000 Zuschauer verfolgten am 17. Februar 2008 die Sprengung des 52 Meter hohen Agfa-Hochhauses) oder dem Verfall und der Spekulation preisgegeben wurden (auch das “Sechzger”-Stadion ist inzwischen massiv vom Abriss bedroht)?

Am 11. November um 19:00 Uhr startet vor der Pilgersheimerstr. 60 (ehemalige “Burg Pilgersheim”) ein St.-Martins-Umzug gegen Mieterhöhungen und Verdrängung in Untergiesing. Passend dazu werden vom 11. bis 17. November im Münchner Werkstattkino, im Herzen des schon mehrfach von Sanierungswellen überrollten Glockenbachviertels, der Langzeit-Dokumentarfilm “Lychener 64” (über den Mieterwandel eines Hauses in Berlin-Prenzlauerberg) und “Empire St. Pauli” (über die Veränderung des Hamburger Kiez) gezeigt. Außerdem findet am 3. Dezember im “Import Export” in der Goethestr. 30 eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Gentrifizierung statt. Künstler diskutieren über ihre spezifische Rolle, u.a. mit dabei: Schorsch Kamerun von den GOLDENEN ZITRONEN.